Sprachliche Varietäten

Sprachliche Varietäten

Seit seinen frühesten Schriften setzte sich Coseriu neben Fragen zur funktionellen Sprache, zum Funktionieren sprachlicher Systeme, auch mit der sprachlichen Variation auseinander. In der 1956 erschienenen Arbeit La geografía lingüística («Die Sprachgeographie») fordert er, dass die Varietätenlinguistik nicht nur die Varietäten im Raume, d.h. die dialektalen Varietäten, berücksichtigen solle, sondern auch die Varietäten der sozialen Gruppen und die situationsbedingten Varietäten, die Sprachstile. Zur Beschreibung dieser drei Varietätendimensionen übernimmt er von dem norwegischen Linguisten Leiv Flydal die Termini diatopische und diastratische Variation (in Anlehnung an die bereits traditionelle Unterscheidung von Synchronie und Diachronie), der Coseriu die dritte Dimension der diaphasischen (d.h. stilistischen) Variation hinzufügt. Bei der Betrachtung eines bestimmten Sprachsystems wird von den Varietäten abgesehen und ein System als syntopisch, synstratisch und symphasisch bestimmbares untersucht. Jedes Sprachsystem kann mit Bezug auf alle drei Dimensionen bestimmt werden. Die Beziehung zwischen den drei Dimensionen sieht Coseriu nicht als ein unverbundenes Nebeneinander, sondern als gerichtet: In einer Sprachgemeinschaft kann das Diatopische diastratisch und das Diastratische diaphasisch gewertet werden (und folglich auch das Diatopische diaphasisch). D.h., dass ein Dialekt als Soziolekt funktionieren
kann und ein Dialekt wie auch ein Soziolekt als Stil funktionieren können,
nicht aber umgekehrt.

Ebenfalls von Flydal übernimmt Coseriu die Unterscheidung zwischen Struktur und Architektur der Sprache. Im Gegensatz zur Struktur der funktionellen Sprache bezeichnet der Begriff Architektur das gesamte Gebäude einer Historischen Sprache, das sich aus den ihr zuordenbaren Varietäten der drei Dimensionen zusammensetzt. Neben den verschiedenen Varietäten ist die Architektur der Historischen Sprache in vielen Gemeinschaften von einer Gemeinsprache gewissermaßen «überdacht». Die Gemeinsprache dient als überregionales, einheitliches Kommunikationsmittel. Coseriu spricht darüber hinaus von «exemplarischer Sprache» als über den Varietäten stehender, ideeller Norm in einer Gemeinschaft. Die exemplarische Sprache wir nicht unmittelbar realisiert, sie ist lediglich eine Orientierungsnorm, die die virtuelle Einheit einer Sprachgemeinschaft widerspiegelt. Historische Sprachen werden von anderen abgegrenzt durch ein adjectivum proprium, etwa deutsche, französische oder spanische Sprache. In dem Aufsatz «Historische Sprache und Dialekt» erwähnt Coseriu darüber hinaus die Praxis der Dialektologie, Varietäten der ihnen am nächsten stehenden Gemeinsprache zuzuordnen. Deshalb seien etwa die niederdeutschen Dialekte dem Niederländischen als Gemeinsprache zuzuordnen und nicht dem Deutschen. Entstünde nun eine eigene niederdeutsche Gemeinsprache, so würde aus der Unterordnung ein Nebeneinander.

La geografía lingüística, Montevideo; auch in RFHC 14, 1955, S. 29-69; Abdrucke: Universidad Nacional de Tucumán, Facultad de Filosofía y Letras, Tucumán 1961, und Montevideo 1958. Deutsche Übersetzung: Die Sprachgeographie, Tübingen: Narr 1975, übersetzt und herausgegeben von Uwe Petersen.

» ‘Historische Sprache’ und ‘Dialekt’ «, in J. Göschel, P. Ivic, K. Kehr (Hrsg.), Dialekt und Dialektologie. Ergebnisse des Internationalen Symposions «Zur Theorie des Dialekts», Marburg/Lahn, 5. -10. Sept. 1977, Wiesbaden 1980, S. 106-122.

Abgedruckt auch in: Energeia und Ergon. Sprachliche Variation – SprachgeschichteSprachtypologie, Studia in honorem Eugenio Coseriu, hrsg. von J.
Albrecht, J. Lüdtke und H. Thun, Bd. I: Schriften von Eugenio Coseriu (1965-1987), eingeleitet und hrsg. von J. Albrecht, Tübingen:
Narr 1988.