Synchronie, Diachronie und Geschichte
Das vielleicht grundlegendste Werk der Coseriuschen Sprachtheorie ist die 1958 in Montevideo erschienene Arbeit Sincronía, Diacronía e historia («Synchronie, Diachronie und Geschichte»), die nicht nur die theoretischen Grundlagen zur Beschreibung des sprachlichen Wandels legt, sondern die umfassende Sprachauffassung Coserius enthält. Wie auch in anderen Arbeiten aus dieser Zeit geht Coseriu von einer Kritik an Ferdinand de Saussure aus, und zwar in diesem Falle einer Kritik an der Unterscheidung zwischen Synchronie und Diachronie, die auf der Grundannahme fußt, daß es unmöglich ist, die Frage des Sprachwandels auf der Ebene der langue zu beantworten. Dabei greift Coseriu auf Humboldt, Hegel und Aristoteles zurück. Von Humboldt übernimmt er die sich auf Aristoteles beziehende Unterscheidung von Energeia und Ergon, von Hegel die Auffassung vom Menschen als einem durch die Sprache historischen Wesen. Die Sprache ist nicht Ergon, «Werk», «Produkt», sondern Energeia, «Tätigkeit» des Menschen als eines kreativen, Zeichen schaffenden Individuums. Die Frage, warum Sprachen sich wandeln, ist aus dieser Sicht eine falsch gestellte. Es ist nicht so, dass Sprachen an sich stabile Entitäten wären, die sich aus irgendwelchen zu bestimmenden Gründen veränderten, sondern dass sie nichts anderes als die historische Objektivierung des Sprechens sind, und daher der Sprachwandel im Wesentlichen durch die Beschreibung des Sprechens und der Finalitäten, welche die Tätigkeit der Sprecher bestimmen, zu erklären ist. Die Frage ist also eher umgekehrt zu stellen: Warum schaffen die Sprecher die Sprache nicht völlig neu. Hierauf wird nun mit der Geschichtlichkeit geantwortet. Die Sprache ist so und nicht anders, weil sich in ihr das So-Sein des Menschen manifestiert; durch die Geschichtlichkeit hat der Mensch die Sprache in sich aufgenommen und ist ein Teil von ihr.