Das Korrekte und das Exemplarische

Das Korrekte und das Exemplarische

JK: Sie haben immer wieder gesagt, daß die Terminologie, wenn sie mit dem allgemeinen Sprachgebrauch übereinstimmt, auch inhaltlich nicht sehr davon abweichen sollte. In Ihrer Arbeit zur Corrección idiomática und in verschiedenen anderen Arbeiten unterscheiden Sie zwischen den Termini «korrekt» und «exemplarisch». Aber im Sprachgebrauch wird eigentlich meist «korrekt» nicht in Ihrem Sinne verwendet, sondern im Sinne von «exemplarisch». Ist es denn möglich, solche Termini zu verteidigen gegen die allgemeine Tradition?

C: Erstens handelt es sich nicht um den Sprachgebrauch schlechthin, sondern um einen fachsprachlichen Usus: auch der naive Sprecher spricht in diesem Fall «als Linguist», er spricht über die Sprache (nicht nur mittels der Sprache) und bewertet sie. Zweitens verwendet der naive Sprecher «korrekt» für beides: sowohl für die «korrekte» Realisierung der exemplarischen Sprache im Sprechen als auch für diese Sprache selbst; ich will ihm aber zeigen, daß dies eine Verwechslung ist, und dabei übernehme ich seinen Terminus für den sinnvolleren Gebrauch. Drittens wird dieselbe Verwechslung auch von Linguisten gemacht (wenn auch in umgekehrter Richtung), und sie verwenden «korrekt» für das Exemplarische und eben auch für das Korrekte. Alle sprechen von «korrektem Sprechen». Ich folge also schon meinem terminologischen Prinzip, kann aber natürlich nicht den doppelten Usus und damit die sinnwidrige Verwechslung übernehmen.

Meine These ist, daß der Irrtum darin besteht, daß man das eine auf das andere in der einen oder in der anderen Richtung reduziert, d.h. daß man entweder das Korrekte auf das Exemplarische zurückführt und man nur die Standardsprache als «korrekt» erkennt und alles übrige als Abweichung und «inkorrekt» betrachtet; oder umgekehrt, wie bei Harold Palmer oder bei Robert Hall, die die Exemplarität überhaupt nicht anerkennen und alles auf das Korrekte zurückführen: jede Art von Sprechen ist dann korrekt, was in gewisser Hinsicht auch stimmt, was aber nicht bedeutet, daß das Exemplarische einfach verkannt oder sogar abgelehnt werden soll. Jede Art zu sprechen ist «korrekt», wenn sie einer bestimmten Tradition entspricht. Das stimmt schon, aber das bedeutet überhaupt nicht, daß man die umfassendere Alterität ignorieren soll. Für bestimmte Zwecke braucht man doch eine Gemeinsprache und auch eine exemplarische Norm der Gemeinsprache. Diese Tendenz existiert also in beiden Richtungen, entweder so, daß man das Exemplarische überall, für jede Sprachverwendung, haben möchte; oder umgekehrt, daß man das Exemplarische überhaupt nicht brauchen würde und in allen Situationen des Sprechens jede Art des Sprechens zugelassen wäre. Diese These vom «Leave your language alone!» wird hier in meinem noch nicht erschienenen Buch La corrección idiomática sehr scharf kritisiert.

JK: Ihre Auffassung zur sprachlichen Korrektheit ist schon mehrfach erschienen, und in manchen Ihrer Aufsätze kommt diese Unterscheidung zwischen «korrekt» und «exemplarisch» bereits vor.

C: Ja, sie wurde zum Teil auch schon stillschweigend übernommen, z.B. von Celso Cunha in Brasilien. Aber nur die Unterscheidung als solche, nicht die ganze Begründung. Meine These ist – und deshalb verstehe ich mein Buch als ein Lehrbuch und als Handbuch für Sprachlehrer und Lehrer der Nationalsprache – daß die verschiedenen Modalitäten der Sprache je nach der jeweiligen Alteritätssphäre zuzulassen sind. Leider wollte sogar der große Menéndez Pidal den argentinischen Voseo ausmerzen. In La unidad del idioma begrüßt er die Maßnahme eines argentinischen Kultusministers, den Schülern den Voseo zu verbieten, «incluso en el recreo», was ich für absurd halte. Er spricht von einem «uso degradado y degradante». Es ist vielleicht historisch ein «uso degradado», aber «degradante» keineswegs: Es ist die normale Anredeform für die Argentinier, wie der Tuteo in anderen Regionen, und schließt nur «argentinische Intimität» ein und «Verleihung der Argentinität an andere», wenigstens ad honorem.

JK: Aber wenn es Tendenzen gibt – die es ja durchaus gibt in Argentinien – daß man sagt, den Tuteo brauchen wir überhaupt nicht mehr, weil wir gar keinen Kontakt zu den anderen Regionen haben – oder zumindest die Leute, die keinen Kontakt haben, brauchen den nicht und man kann den auch abschaffen – dann haben Sie immer vertreten, man soll doch auch die Einheit bewahren und nicht die Einheit der spanischen Sprache gefährden.

C: Ja, denn Argentinien lebt nicht allein in der spanischsprechenden Welt, und es wäre absurd, den Tuteo zu ignorieren, denn die implizite Idee des Voseo ist gerade die der Argentinität. Die Argentinier selbst sehen es auch so und würden z.B. nicht Russen in einem russischen Film mit Voseo sprechen lassen. Daß Gorbatschow z.B. zu Raissa «vos» sagt, ist völlig undenkbar für jeden Argentinier. Es ist undenkbar für einen Argentinier, daß ein Lehrer für Geschichte sagt, Caesar hätte zu Brutus gesagt, «vos también, mi hijo». Da wird jeder sagen: «tú también, mi hijo», weil Caesar kein Argentinier war und man ihm auch nicht die Argentinität verleihen kann. Es wäre nur als Scherz oder ironisch möglich; oder wenn man, sagen wir, die römische Geschichte wie in den Asterixheften schreiben würde, aber nicht, wenn römische Geschichte als römische Geschichte gemacht wird.

JK: Aber einerseits geht es hier um eine Deskription, die Sie ableiten aus den Normen, die es gibt. Es könnte ja aber andererseits auch sein, daß es hier Wandel gibt oder daß in der Gemeinschaft diese Frage diskutiert wird und keinesfalls alle der gleichen Meinung sind. Würden Sie sich dagegen wehren, wenn Sie sehen würden, daß es in Argentinien immer weniger die Tendenz gibt, den Tuteo zu akzeptieren und andererseits der Voseo auch auf neue Verwendungen ausgeweitet würde?

C: Nun, wenn man Sprachpolitik und Theorie der Sprachpolitik macht, so muß man verstehen, daß nicht alle Tendenzen auch richtig sind. Man kann nicht immer sagen, es gibt diese Tendenzen und die müssen auch anerkannt werden. Nein, das wäre töricht. Das will ich nicht anerkennen, weil es gerade das tatsächliche Streben eines jeden Sprechers nach Universalität ignoriert und diese Universalität begrenzt. Argentinien ist ein Teil der spanischsprachigen Welt; und es gibt für jeden, auch für jeden Argentinier, ein Streben nach einem sprachlichen Panhispanismus, im Rahmen dessen der Argentinier, der sich selbst bewußte Argentinier, auch auf das Regionale verzichtet, etwa, wenn er sagt: «Como decimos nosotros» oder «Como solemos decir en la Argentina». Auf dieser panhispanischen Ebene verzichtet man auf verschiedenes, was man zu Hause verwendet, wenn man weiß oder ahnt, daß die entsprechenden Formen regional sind. Und da stellt sich die Frage, was man anstelle dieser Formen gebraucht. Es ist wiederum eine Frage der Politik, welches Spanisch man für «das beste» hält. Viele sagen: Natürlich das Spanische von Spanien. Ich sage es nicht so. Man muß (in der Sprachplanung) differenzieren: wenn es das Spanische in Spanien ist, das von bestimmten Traditionen abweicht, dann müssen wir sagen: «les enmendaremos la plana también a los españoles.» Aber Tatsache ist, daß Spanien immer noch der geometrische Mittelpunkt der Hispanität ist, d.h. daß das Prestige des Spanischen Spaniens für alle Länder gilt und jedes Land eher bereit ist, das Spanische Spaniens anzunehmen, als daß man etwa in Argentinien das mexikanische Spanisch annimmt oder in Mexiko das argentinische. Das Spanische von Spanien ist neutraler, man kann es schon eher annehmen, und da gibt es keine Rivalität mehr. Das kann man auch in anderen Fällen feststellen: wenn neue Sachen benannt werden müssen, fragt man sich, wie sie in Spanien benannt werden. Außerdem ist tatsächlich das Spanische Spaniens viel besser bekannt als das, was in diesem oder jenem Land in Amerika gesagt wird, denn das Spanische von Spanien gehört allen an, nicht nur einer bestimmten Region. Deshalb kann ich wissen – und wenn ich ein bewußter und kultivierter Sprecher bin, weiß ich es – daß z.B. canilla etwas ist, was wir im Río de la Plata sagen. Ich weiß eventuell nicht, wie die Mexikaner in diesem Fall sagen, vielleicht sagen sie llave del agua, was tatsächlich der Fall zu sein scheint. Aber sowohl der Uruguayer oder Argentinier, der canilla sagt, als auch der Mexikaner, der llave sagt, weiß, daß in Spanien grifo gesagt wird; und wenn ich dann mit einem Mexikaner spreche und nicht weiß, wie er es sagt, aber weiß, daß canilla spezifisch für den Río de la Plata ist, sage ich grifo. Denn grifo wird er verstehen; canilla dagegen nicht. Wenn ich in Spanien bin, verzichte ich natürlich darauf, pollera für falda zu sagen und verzichte sogar auf banana und papa, indem ich plátano und patata sage, aber nicht im Río de la Plata, wo ich natürlich weiterhin banana und papa verwende. In Spanien verwende ich in eindeutigen Kontexten sogar coger, also etwa coger el autobús oder coger un coche, wenn es klar ist, daß das nicht etwas anderes bedeuten kann. Es ist aber so, daß man auch in Spanien gewisse Formen, die man als Regionalspanisch erkennt, nicht in das Panhispanische aufnimmt. Man nimmt sozusagen nicht mit geschlossenen Augen alles als allgemeingültig an: ich sage z.B. nicht chaval, nicht ese tío, nicht vale für así es oder está bien, und das gilt für eine ganze Menge Formen. Die Spanier sagen natürlich vale, aber das wird dann von anderen Spanischsprechenden als Regionalspanisch erkannt und nicht als allgemeine Form, d.h. es ist so «dialektal» wie etwas Dialektales in Peru oder in Venezuela oder im Río de la Plata.

JK: Es ist aber doch häufig so, daß gerade die «Fehler» der Gegenwart in der historischen Perspektive Neuerungen sind.

C: Die Tatsache, daß ein Fehler irgendwann zu einer Regel werden kann, bedeutet nicht, daß er das schon ist. Solange etwas noch keine Regel ist, kann man auch nicht sagen, daß man es zulassen muß, weil es die morgige Regel sein kann. Wenn es zu einer Regel wird, dann ist das anders. Aber solange es nur eine Abweichung ist, ist es eben keine Regel. Es stimmt auch nicht, daß die häufigeren Fälle der Regel entsprechen und die weniger häufigen den Abweichungen, denn statistisch und mathematisch muß es für jede Regel mindestens zwei Abweichungen geben: wenn es nur auf der einen Seite eine Abweichung gibt, dann ist es keine Abweichung, sondern eine andere Regel. Deshalb müssen eigentlich die «Fehler» in der Mehrzahl sein gegenüber der «Norm» oder der normalen Form. Trotzdem sind sie nicht regelmäßig, weil sie entweder so oder so abweichen und nicht geradlinig sind. Man darf sich hier auch nicht darauf beziehen, daß Sprachfehler auch bei Schriftstellern zu finden sind. Wenn man einen sprachlichen Fehler toleriert bei einem großen Schriftsteller, so bedeutet das überhaupt nicht, daß man bei allen Sprechern diesen Fehler tolerieren muß. Wenn mir jemand zur Begründung der Verwendung einer falschen Form sagt, sie finde sich bei Cervantes, dann sage ich zu ihm: «Sei Cervantes, und wir werden es auch bei dir tolerieren.» Cervantes war nicht deshalb Cervantes, weil er diesen oder jenen sprachlichen Fehler gemacht hat. Das erinnert mich an eine Geschichte von Alphonse Allais, der von einem Mann erzählt, der sich immer mit großen Persönlichkeiten identifizierte, weil er einen bestimmten Zug mit ihnen teilte. So sagte er, weil er etwas klein und untersetzt war: «Je suis un type comme Napoléon.» Weil er viel Kaffee trank, meinte er: «Je suis un type comme Balzac, je bois beaucoup de café!» – und als er dann ich weiß nicht mehr warum hingerichtet wird und gerade 33 Jahre alt ist, meint er: «Je suis un type comme Jésus Christ, je meurs à 33 ans!» – wegen einer Übereinstimmung hat man natürlich nicht die ganze Identität mit dem anderen.

Die «Korrektheit» der Sprache ist immer nur aktuell. Sie betrifft nicht die Vergangenheit, aber auch nicht die Zukunft. Nicht alles Neue wird zur Regel, sondern nur das, was verallgemeinert wird. Es stimmt aber, daß gewisse «Irrtümer» keine Flüchtigkeitsfehler sind, sondern uminterpretierte Regeln. Dafür findet man viele Beispiele in der Sprachgeschichte. So hat sich beim Konjunktiv gewisser spanischer Verben durch die phonetische Entwicklung eine Endung -ga ergeben, wo natürlich nur -a das Konjunktivmorphem ist, wohingegen g zum Stamm gehört; so etwa bei traer: traga, später traiga. Da nun diese Endung in Opposition zu einer vokalischen Endung beim Indikativ (im Falle von traer: trae) stand, wurde sie als Morphem des Konjunktivs interpretiert und mit dieser Funktion auch anderen Verben angehängt. Bei oír ist oiga (für älteres oya) schon allgemeine Norm geworden; bei haber gilt hingegen haiga als Sprachfehler, weil die Gemeinsprache diese Form nicht aufgenommen hat und bei ihrem haya bleibt. Ähnliches passiert derzeit im Französischen in Fällen wie [katrEzofisje]. Hier gibt es überhaupt kein -z- der Liaison, aber in Anlehnung an les amis, les officiers etc. hat man angenommen, der Plural sei zofficiers, d.h. das -z- der Liaison wurde als Morphem für Plural interpretiert. So sagt auch Zazie, in Zazie dans le Métro, immer zyeux statt yeux. Und in einem Fall ist das schon zur Norm des Französischen geworden: es wird z.B. mit diesem z (d.h. durch die Realisierung der Liaison mit êtes) zwischen Vous êtes Allemand [vuzätalmå] im Singular und Vous êtes Allemands [vuzädzalmå] im Plural unterschieden; ebenso im Falle von Vous êtes Italien – Vous êtes Italiens usw. Derjenige, der uminterpretiert, nimmt aber nicht an, daß er etwas Neues einführt, sondern er nimmt an, daß in der gemeinschaftlichen, objektiven, historischen Sprache gerade diese Regel gilt.

So ist es auch beim Sprachenlernen, denn es ist völlig falsch, anzunehmen, daß das Kind die Sprache von den Erwachsenen als etwas schon Vorgegebenes lernt und sich allmählich das aneignet, was ihm die Erwachsenen sagen: das Kind schafft jeweils Regeln. Und wenn diese Regeln akzeptiert werden – was in der kleinen Sprache der Familie auch geschieht -bleiben sie auch bestehen. Das Kind verzichtet aber jeweils auf die Regeln, wenn es feststellt, daß sie nicht gelten und von den anderen nicht angenommen werden. Ein Kind, das gehört hat, daß man es regnet sagt, wenn viele Tropfen fallen, kann auch, wenn es viele Leute sieht, es menscht sagen; es wird ihm dann gesagt, daß das so nicht gesagt wird. Es ist aber eine Möglichkeit dieses Systems, das das Kind dabei ist, sich zu schaffen. Das Lernen ist immer kreativ und bedeutet immer Schaffen von Systementwürfen.

Oft wird aber die Abweichung überhaupt nicht zur Regel und bleibt als Abweichung erhalten. So etwa, im Französischen, die Verwendung der Verbalendung -ons der 1. Person Plural auch bei der 1. Person Singular. wie in dem Lied Sur la route de Louviers («Si je roulions carrosse comme vous je ne casserions point de cailloux»). Das ist auch im volkstümlichen Französischen Kanadas üblich, wie die Schriftstellerin Antonine Maillet in La Sagouine richtig erkannt hat, wo immer j’avons, je savons etc. erscheint. Und es war schon im 16. Jahrhundert da. Pierre de la Ramée betrachtete solche Formen sogar als normal im Französischen und als annehmbar. Dennoch hat sich diese Erscheinung in so vielen Jahrhunderten nicht behauptet. Schon Vaugelas empfiehlt je vas, tu vas, il va, und trotzdem sagt man heute je vais, tu vas etc. Das heißt, es dauert teilweise sehr lange mit der Annahme. Was mich aber vor allem interessiert, ist nicht die Feststellung dieses langen historischen Prozesses, sondern die Motivation beim Sprechenden. Beim Sprechenden ist die Motivation immer eine objektive in dem Sinne, daß er bei einer Uminterpretation annimmt, das sei schon die Regel, und zwar die Regel «der anderen», nicht etwa ein von ihm neu eingeführter Ausdruck. Derjenige der zum erstenmal quatre-z-officiers gesagt hat, hat sich nicht überlegt, daß er dies nun tut, um den anderen zu zeigen, daß das Plural ist.

JK: Aber zumindest im Falle von Lehnwörtern gibt es doch Fälle, wo der Sprecher oder auch der Schriftsteller ganz bewußt neue Ausdrücke schafft.

C: Natürlich, aber auch in diesem Fall gibt es Sachen, die «gut» gemacht sind, und solche, die «schlecht» gemacht sind; etwa, wenn der Sprecher schon zu einem Linguisten wird und glaubt, daß die richtige galicische Form soma sein muß und nicht sombra, weil er eine völlig andere Analogie annimmt.

JK: Wenn aber viele diesen «Fehler» begehen, dann kann er auch zur Tradition werden.

C: Selbstverständlich, wie ich schon gesagt habe, würde auch ein solcher Ausdruck vielleicht angenommen, wenn ihn etwa ein großer Dichter verwenden würde. Die Frage aber, warum etwas angenommen wird und warum diese Analogie eintritt, ist immer noch nicht geklärt, obwohl man sagt, daß die häufigeren Formen die weniger häufigen nach sich ziehen. Denn anfangs sind die Formen, die sich verbreiten, noch nicht die häufigeren, sondern die weniger häufigen. Warum hat man z.B. im Spanischen solidaridad angenommen, wo doch Andrés Bello, der dieses Wort im Código civil chileno eingeführt hatte, solidariedad geprägt hatte: die «gute» spanische Bildung. Gerade die gut gebildete Form hat sich nicht durchgesetzt.

JK: Kann man die Erklärung für solche Entwicklungen denn überhaupt innerhalb der Sprache finden? Muß man nicht «äußere» Erklärungen suchen, wenn man mit Frequenz etc. nicht weiterkommt?

C: In diesem Fall muß man das wahrscheinlich nicht als Bildung innerhalb des Spanischen, sondern als Entlehnung aus dem Französischen interpretieren, wo es bereits solidarité gab. Es ist schon richtig, daß man im Einzelfall nach Kriterien wie Prestige etc. suchen muß; wichtig bleibt aber, daß auch beim ersten Beispiel immer angenommen wird, daß das schon Sprache ist, d.h., daß das auch dem anderen bereits gehört: das ist eben das Typische beim Schaffen sprachlicher Ausdrücke.

JK: Kann man sagen, daß Sprachpolitik eigentlich eine elitäre Sache ist? Denn wenn man z.B. eine Umfrage machen würde in Mexiko, ob jemand grifo kennt, dann würde man wahrscheinlich in der allgemeinen Bevölkerung sehr viele Leute finden, die diese Form nicht kennen und sie auch nicht benutzen. Sie haben von den «kultivierten Leuten» und von den guten Schriftstellern gesprochen.

C: Es geht wiederum um die Frage, auf welcher Ebene wir sprechen. Die Leute, die grifo nicht kennen, sprechen auch nie auf der Ebene der panhispanischen Exemplarität, und deshalb brauchen sie das überhaupt nicht. Denen werden wir nicht sagen: «¡Cuidado, hay que decir grifo!» Überhaupt nicht. Wenn man über verschiedene Register verfügt, spricht man jeweils anders je nach dem Milieu und der Gelegenheit des Sprechens, und gerade das muß man verstehen und sich überzeugen, daß dies vollkommen normal ist. Gewisse Sprachgemeinschaften sind fast auf eine natürliche Weise zu dieser Einstellung gekommen, die spanische merkwürdigerweise gerade nicht, die deutsche hingegen schon weitgehend, wenigstens hier im Süden. Hier kann ein völlig kultivierter Mensch die rein lokale Mundart sprechen z.B. mit seiner Familie, eine gehobenere Mundart mit den Freunden, außerdem Honoratiorenschwäbisch und auch Hochdeutsch. Als Herr Geckeler mein Assistent war, habe ich erlebt, wie er etwa mit seiner Familie sprach und ich kein Wort verstand; wenn er mit Herrn Bausch sprach, verstand ich das schon, das war nicht mehr seine lokale Mundart, sondern so eine Art überregionales Schwäbisch. Und mitten im Gespräch mit seiner Familie, wenn er mit jemand anderem sprach, konnte er z.B. zum Honoratiorenschwäbisch wechseln. Mit mir hat er nie Schwäbisch gesprochen, mit mir sprach er Hochdeutsch, wenn auch mit schwäbischem Einschlag.

JK: Aber es gibt doch auch durchaus Sprachgemeinschaften, in denen die Anpassung an die Variation weniger üblich ist. Daß man zur Gemeinschaft hintendiert, ist natürlich eine allgemeine Erscheinung. Aber es gehört doch auch zur Alterität, daß man andere versteht, auch wenn sie anders sprechen, daß man ihre Varietäten übertragen oder übersetzen kann. Ich stoße auf dieses Argument oft auch gerade in Spanien, wenn die Sprecher sagen, daß die anderen sie doch auch so verstehen, was sollen sie sich da anpassen?

C: Das ist gerade die Einstellung, die die Würde der Sprache verletzt und bei der man die Sprache als Instrument und nicht als Modalität des Seins, des historischen Seins eines jeden ansieht. Es ist furchtbar peinlich , dieses «con tal que se entienda, cada cual puede hablar de cualquier modo». Das bedeutet eigentlich, sich selbst zu verachten. Jede Tätigkeit hat auch eine bestimmte ihr innewohnende Ethik; und es gehört zur Ethik der Sprache, nicht nur so zu sprechen, daß man verstanden wird, sondern auf die bestmögliche Weise.

Etwas anderes ist die Toleranz, d.h. daß man den anderen versteht und daß man versucht, ihn zu verstehen. Das ist auch eine Norm der Sprache und gilt für das Sprechen im allgemeinen. Die erste Annahme ist, daß der andere sinnvoll spricht. Wir sagen nicht, daß jemand sicherlich nur Unsinn sagt und daß er verrückt ist. Das darf man wenigstens nicht im voraus sagen. Zunächst versuchen wir das, was er sagt, als sinnvoll zu interpretieren, und wenn wir etwas nicht verstehen, dann fragen wir, was das bedeutet und denken nicht gleich, es sei Unsinn. Es gibt Länder, wo die Varietät durch allogene Gruppen zustande kommt, wie etwa die Sowjetunion oder die Vereinigten Staaten, und wo die Toleranz für verschiedene Aussprachen, für verschiedene Arten, dieselbe Sprache zu sprechen, sehr hoch ist. In der Sowjetunion oder den ehemals dazugehörigen Ländern kann man jede Aussprache verwenden und man wird verstanden. Man strengt sich an, um zu verstehen, weil man annimmt, daß es wahrscheinlich irgendeine Aussprache ist von irgendeinem Volk der Gemeinschaft. Die Georgier etwa sprechen ohne Palatalisierung, das haben sie immer getan; Stalin hat z.B. auch so gesprochen, und man versteht es einfach. In den Vereinigten Staaten ist es ähnlich. In den Vereinigten Staaten spricht man mit irgendeiner Aussprache. Was nicht bedeutet, daß ich dann sage, ich kann sprechen, wie ich will. Ich meine, daß ich einer bestimmten Norm folgen muß.

JK: Aber Sie haben jetzt einerseits ein ethisches Prinzip eingeführt und dann eine Art Einschränkung davon, weil neben diesem ethischen Prinzip eine gewisse Toleranz herrscht. Könnte also ebenfalls als ethisches Prinzip gelten, daß man so spricht, wie man will, sofern das möglich ist?

C: Das ist wie die antidemokratische, reaktionäre Theorie etwa von Robert Hall, der falsche sprachliche Liberalismus: Jeder darf überall sprechen, wie er will. Nein, man darf nicht im Parlament wie in der Kneipe sprechen. Es ist ein großer Fehler, zu verlangen, daß man bei jeder Gelegenheit die Hochsprache und sogar in einem gehobenen Stil spricht; damit macht man sich nur lächerlich. Aber es ist ein nicht weniger grober Fehler, zuzulassen, daß auf höheren Ebenen der Kultur und des öffentlichen Lebens die familiäre oder die vulgäre Sprache gesprochen wird. Das bedeutet nicht Respekt, sondern Verachtung für die Sprecher und kommt mir so vor, als ob man sagen würde: «der Neger soll bei jeder Gelegenheit so sprechen, wie er will, denn er braucht die höhere Kultur überhaupt nicht, die machen doch wir; er kann bei seiner Kultur bleiben. Wir werden sogar sagen, daß seine Kultur sehr wichtig ist – aber wir behalten unsere.» Das ist die typische Haltung der falschen Liberalen. Manchmal sind die auch überzeugt, daß sie wirklich liberal sind, aber in Wirklichkeit sind sie radikal reaktionär. Es ist auch so, wenn man annimmt, daß man für das Volk nicht den echten Shakespeare braucht, sondern einen vereinfachten, «damit das Volk ihn versteht». Die einzige Art, das Volk wahrhaftig zu respektieren, ist, ihm den wirklichen, unverfälschten, echten Shakespeare vorzuführen. Man hat es gesehen bei den Experimenten, die gemacht worden sind in Italien, in Sesto San Giovanni, gerade mit Shakespeare, dem echten Shakespeare vor den Arbeitern, und zwar mit riesigem Erfolg. Das Publikum hat an manchen Stellen durch Lachen Inhalte unterstrichen, die dem Regisseur überhaupt nicht aufgefallen waren.

So steht es auch mit der Philosophie und mit der Kunst: keine Philosophie für Hausfrauen, sondern Philosophie! Keine Malerei, die dem sogenannten Geschmack des Publikums entspricht, sondern Malerei! Dann erzieht man das Publikum, damit es auch die gute Malerei schätzt usw. Das Gegenteil, also der Scheinliberalismus, ist eigentlich eine reaktionäre Haltung, die entweder tatsächlich reaktionär ist und scheinheilig, oder naiv, wenn seine Vertreter glauben, daß sie alles für das Volk tun, und in Wirklichkeit tun sie es nicht.

Und die anderen Tendenzen, von denen Sie sprechen, das sind nicht Tendenzen der Sprecher, sondern der falschen Theoretiker oder der Sprecher, die zu Linguisten werden. Wenn sie aber Linguisten sind, sind sie natürlich wissenschaftlich naiv und wissen nicht, welches die Normen sind. Oder es sind Meinungen von Politikern, die sich überhaupt keine Gedanken über die Sache machen und Liberalismus mit Reaktion oder mit derselben im Grunde reaktionären Haltung verwechseln. Auch die Russen z.B. versuchen, einen zu verstehen, wenn er anders spricht, sie denken aber nicht, daß sie auch so sprechen müßten. Die Toleranz gegenüber dem anderen bedeutet nicht, daß man auf sein eigenes Sprechen-Können verzichtet. Man strengt sich zwar an, den anderen zu verstehen, wenn er mit Abweichungen spricht; aber selbst würde man nicht so sprechen.

JK: Aber wenn z.B. ein Moldauer mit einem russischsprachigen Moldauer bewußt rumänisch spricht, weil er dadurch zeigen will, daß er der Überzeugung ist, daß das Rumänische für ihn die wichtigere Sprache ist, auch wenn der andere ihn vielleicht schlechter versteht als wenn er mit ihm Russisch sprechen würde, dann wird doch dieses Prinzip eigentlich durchbrochen. Denn dann ist nicht mehr die oberste Finalität, so zu sprechen, wie der andere es am besten versteht, sondern ich verbinde gleichzeitig mit meinem Sprechen eine politische Forderung.

C: Sicherlich. Das steht in meinem Aufsatz über Sprache und Politik . Daß die Motivation immer positiv ist, aber es gibt verschiedene Positivitäten. Die Problematik der Haltungen des Sprecher im konkreten sprachlichen Verkehr ist sehr komplex, und ich habe mich damit noch nicht eingehend beschäftigt (einiges steht allerdings in der Corrección idiomática, die noch nicht erschienen ist). Aber zu Ihrer Frage kann ich sehr wohl etwas präzisieren. Was ich vorhin sagte – etwa «sprich so, daß dich der andere versteht» – betraf die Wahl der Sprachregister und der Sprachstile innerhalb einer Sprache, nicht die Wahl einer Einzelsprache. In diesem Bereich muß nämlich derjenige tolerant sein, der mehr weiß: man kann nicht von einem Bauern, der nur seine Mundart spricht, verlangen, daß er die Hochsprache spricht. Es ist etwas anderes, wenn es um verschiedene Sprachen geht. Um es klar zu sagen, werde ich mich mit dem Sprecher identifizieren, der die Entscheidung zu treffen hat. Also: auch in diesem Fall bin ich im interindividuellen Sprachverkehr natürlich sprachlich tolerant gegenüber Fremdsprachigen, die bona fide sind. Wenn er meine Sprache nicht kann, versuche ich, seine zu sprechen oder eine andere Sprache, die auch er kann, um ihm behilflich zu sein oder um überhaupt zu einem Gespräch zu kommen. Nicht so hingegen, wenn der andere gerade nicht guten Glaubens ist, wenn er meine Sprache überhaupt nicht sprechen will und mir seine aufzwingen will; und noch weniger, wenn es sich dabei um ein «Kollektivverhalten» handelt. Wenn jemand seit drei Jahren in meinem Land lebt und meine Sprache nicht gelernt hat, weil er der Überzeugung war, daß ich seine zu lernen habe; oder wenn jemand in mein Land als Herrscher oder als Kolonialherr kommt und mir seine Sprache aufzwingen will, weil er sich für in jeder Hinsicht überlegen hält und meine Sprache und Kultur einfach ignoriert und verachtet, – da bin ich nicht mehr tolerant, und will als gleichberechtigt, nicht als Knecht behandelt werden. Ich verlange natürlich nicht, daß eine sprachliche Minderheit meine Sprache lernt und dabei ihre eigene aufgibt, wohl aber, daß die Minderheit die Sprache der Mehrheit lernt, wenn diese Minderheit sprachlich imperialistisch und intolerant ist und der Mehrheit ihre Sprache aufzwingen will. Tolerant sein bedeutet nicht auch sprachliche Intoleranz regungslos hinnehmen und schließt nicht ein, daß man sich auch dem sprachlichen Imperialismus und Kolonialismus knechtisch fügt. Denn das wäre nicht mehr sprachliche Toleranz, es wäre sprachlicher Masochismus.

Aber jetzt zurück zum «Normalfall», d.h. zum Verhalten im Rahmen ein und derselben historischen Sprache. Es existiert hier nicht nur eine Norm, sondern bei einer so komplexen Tätigkeit verschiedene Normen auf verschiedenen Ebenen. Die Norm ist offen und bedeutet überhaupt nicht eine einzige Norm für alle Sprecher der Gemeinschaft, sondern verschiedene Normen und stratifiziert, so daß es davon abhängt, innerhalb welcher Alteritätssphäre man spricht. Deshalb sage ich, es wäre lächerlich z.B. in der Familie so zu sprechen, wie man in einer Universitätsvorlesung sprechen würde. Viele Puristen möchten es gerne, aber das ist gerade gegen die Norm des Sprechens, die Norm der jeweiligen Alterität.

JK: Aber es bleibt die Frage, wo da dann die Dynamik ist? Wenn man immer weiß, wie die Normen sind, dann kann sich auch nichts verändern. Aber es gibt ja doch Leute, die eben in der Familie so sprechen wollen wie in einer Universitätsvorlesung. Es gibt so etwas durchaus in der Realität – z.B. die Schwaben, die mit ihren Kindern versuchen, Hochdeutsch zu sprechen, weil sie glauben, daß die Kinder dann klüger werden. Wo ist so etwas einzuordnen? Faktoren wie Prestige oder sogenannte «äußere» Einwirkungen?

C: In diesem Fall würde ich sagen, daß sich die Eltern irren. Sie haben es schon mit diesem ironischen Ton gesagt: die glauben das usw. Für mich machen sie sich lächerlich, weil sie so sprechen. Ich hatte etwa einen schwäbischen Kollegen, der sagte, daß er auch in der Familie immer Hochdeutsch sprechen würde; und er sprach mit einer typisch schwäbischen Aussprache. Die vernünftige Einstellung in einem solchen Fall ist m.E., daß die Eltern den Kindern sowohl das Schwäbische als auch das Hochdeutsche beibringen, wenn sie auf ihre regionale Identität nicht verzichten wollen.

JK: Man kann aber doch nicht mehr sagen, daß die Leute sich irren, wenn das eine große Bewegung ist. In Galicien sprechen fast alle Mütter Spanisch mit ihren Kindern. Irren die sich dann alle? Oder ist das einfach eine mögliche Art von Wandel, die stattfinden kann oder auch nicht?

C: Das betrifft nicht eine Sprache, sondern wieder zwei Sprachen, und die Frage, warum, zu welchem Zweck man die andere Sprache spricht. Das ist aber eine Frage der Pädagogik und der Lebensplanung, nicht mehr des Sprechens. Man spricht diese andere Sprache, damit die Kinder diese Sprache lernen; so wie man Französisch sprechen kann, damit sie Französisch lernen; oder so wie meine Kinder schon in Uruguay die deutsche Schule besucht haben, damit sie später in Deutschland weitermachen können. Das ist etwas anderes. Es ist eine praktische Frage, und natürlich ist diese Haltung der galicischen Eltern auch eine praktische, denn es geht darum, was die Kinder dann verwenden werden in ihrem Leben. Man kann ihnen auch sehr schön das Galicische beibringen, wenn die Eltern Galicisch können. Aber wenn sie nicht einmal Galicisch können und man ihnen aber dennoch sagt, sie müssen Galicisch sprechen und nicht Spanisch, obwohl sie aus Andalusien kommen, und zwar nur weil sie zufällig in Galicien wohnen, dann ist das schon die andere Seite der Medaille und der Sprachpolitik, nämlich das Aufzwingen einer Sprache. Oft geschieht das mit dem Argument, das Spanische sei ihnen auch aufgezwungen worden. Aber das Kastilische hat man in Wirklichkeit nie aufgezwungen. Die ersten, die angefangen haben, das Kastilische den anderen aufzuzwingen, waren die französischen Könige im 18. Jahrhundert. Bis dahin war das ein völlig normaler und freiwilliger historischer Prozeß: das Kastilische wurde aufgenommen. Und zwar seit den ältesten spanischen Urkunden. In den Foros de Castelo Rodrigo erscheinen kastilische Formen, und man hat gedacht, das sei auf kastilische Schreiber zurückzuführen. Ich halte es für verkehrt: Es waren vielmehr die lokalen Schreiber, die gewisse Formen schon als allgemein Spanisch erkannt haben, weil das bereits die Prestigeformen waren. Deshalb bin ich auch mit der jetzigen Politik in einigen autonomen Regionen nicht einverstanden. Aufgrund der historischen Grenzen, die keine Sprachgrenzen sind und es in gewissen Fällen vielleicht nie gewesen sind, will man die Sprache der Region auch Kastiliern aufzwingen, die seit Generationen diese Sprache nicht sprechen und vielleicht nie gesprochen haben, etwa auch denjenigen, die seit Generationen kein Valencianisch und wahrscheinlich überhaupt nie Valencianisch gesprochen haben. Man hat in sprachlicher Hinsicht die Autonomie allzu wörtlich verstanden.

Auszug aus Johannes Kabatek/Adolfo Murguía: «Die Sachen sagen, wie sie sind…». Eugenio Coseriu im Gespräch, Tübingen: Narr 1997.

JK= Johannes Kabatek; EC=Eugenio Coseriu.