Determinierung und Umfeld

Determinierung und Umfeld

1955/56 erscheint im Romanistischen Jahrbuch der Aufsatz «Determinación y entorno», ein Auszug aus dem unveröffentlichten Buch Teoría lingüística del nombre propio. Darin wird eine Linguistik des Sprechens skizziert, die zunächst von einer Umkehrung des bekannten Saussureschen Diktums ausgeht, die Sprachwissenschaft habe grundsätzlich alle Fragestellungen von der langue aus zu stellen. Dagegen wird gesagt, dass es vielmehr darum gehe, alle Fragestellungen vom Sprechen aus zu stellen: «statt auf den Boden der Sprache, ‘muß man sich von Anbeginn an auf den des Sprechens stellen und dieses zur Norm aller anderen sprachlichen Dinge nehmen’ (einschließlich der «Sprache»).» (dt. Übers. S. 258).

In dem Aufsatz geht es dann um eine komprimierte Darstellung einer Linguistik des Sprechens und eine erstmalige Skizzierung einer Textlinguistik. Dies wird konkret anhand des – vor allem auf die Frage der Eigennamen bezogenen – Problems der Determinierung diskutiert, wobei neben der Klassifikation der sprachlichen Determinierungsmöglichkeiten
auch eine genaue Darstellung der sprachlichen Umfelder gegeben wird.

Bei der Determinierung, und zwar der nominalen Determinierung, unterscheidet Coseriu verschiedene Operationen zur Aktualisierung eines virtuellen sprachlichen Zeichens: die Aktualisierung, die Diskrimination, die Delimitierung und die Identifizierung.

Durch die Aktualisierung wird ein virtuelles Zeichen auf einen Gegenstand gerichtet, die Überführung von einer «Identität» (z.B. «Mensch») zur «Ipsität» (z.B. «der Mensch»).

Die Gesamtheit derjenigen über die Aktualisierung hinausgehenden Operationen, durch die die Denotation auf «eine mögliche oder wirkliche Gruppe einzelner Seiender» (ibd., 266) gelenkt wird, nennt Coseriu die Diskrimination. Dabei gibt es drei Untergruppen: Quantifizierung, Selektion und Situierung, mit den entsprechenden Operationen.

Durch Quantifizierung wird auf die Zählbarkeit der bezeichneten Gegenstände verwiesen.

Durch die Selektion wird die Spezifizität der Gegenstände hergestellt: während also durch Quantifizierung nur «eine Menge/Gruppe» von etwas abgegrenzt wird (z.B. «ich suche eine Wohnung»), geht es bei der Selektion um partikularisierte oder individuierte Gegenstände («ich suche eine Wohnung, von der man mir erzählt hat»; «ich suche die Wohnung meines Bruders»). Bei der Situierung schließlich werden bezeichnete Gegenstände durch Possesiva mit Personen verknüpft («deine Wohnung») oder durch Deiktika im Raum oder in der Zeit bestimmt («diese Wohnung»).

Als Delimitation bezeichnet Coseriu im Gegensatz zur Diskrimination, bei der es um die Präzisierung der Bezugsgegenstände bei gleich bleibenden Bezeichnungsmöglichkeiten ging, die verschiedenen Möglichkeiten zur Eingrenzung der Bezeichnungsmöglichkeiten eines Zeichens. Auch hier werden drei Untergruppen abgegrenzt: die Explizierung, die Spezialisierung und die Spezifizierung. Bei der Explizierung werden bestimmte Eigenschaften des Bezeichneten unterstrichen, ohne daß es verändert würde («der weite Ozean»). Bei der Spezialisierung werden bestimmte externe oder interne Grenzen des Determinierten markiert: «der ganze Mensch»; «Goethe als Dichter». Die Spezifizierung schließlich beschränkt «die Bezugsmöglichkeiten eines Zeichens» durch Hinzufügung weiterer Charakteristika, die nicht in der Bedeutung enthalten sind: «der blonde Junge», «die Wasservögel».

Bei der Identifikation geht es um die Spezifizierung der Bedeutung einer vieldeutigen Form, etwa «Fußballmannschaft», «New York», «Córdoba, Argentinien».

Die verschiedenen Determinierungsoperationen dienen dazu, sprachliche Zeichen auf aktuelle Gegenstände zu richten. Für die sprachliche Kommunikation sind darüber hinaus jedoch noch eine ganze Reihe weiterer Bezüge relevant, die als das beschrieben werden können, was Coseriu die Umfelder nennt.

Traditionell wird zwischen Sprache und Kontext unterschieden; was z.T.
genauer differenziert wird, wenn einerseits von sprachlichem, andererseits
von außersprachlichem Kontext gesprochen wird. Auf J. Catford geht die üblich gewordene Unterscheidung zwischen außersprachlichem Kontext und sprachlichem Kotext zurück. Eine genauere Bestimmung findet sich bei Karl Bühlers aus der Farbenlehre übernommenem Begriff von den Umfeldern. Die Klassifikation, die Coseriu zur Unterscheidung verschiedener Umfelder vornimmt, ist jedoch noch detaillierter und differenzierter. Er unterscheidet zunächst vier Hauptbereiche der Umfelder, die erstens durch das Sprechen und die sprechende Person, bestimmt sind («Situation»), zweitens das Zeichen und dessen Bezugssysteme («Region»), drittens durch das konkrete Zeichen im Text und dessen Umgebung («Kontext») und viertens durch ein übergreifendes Bezugssystem («Redeuniversum»). Im einzelnen unterscheidet er folgende Umfelder:

a) Situation. Dieser Begriff, der in Textlinguistik und Pragmatik
in sehr uneinheitlicher und z.T. etwas vager Weise gebraucht wird, wird
von Coseriu (1994, 126) im eingeschränkten Sinne definiert: «Bei der
‘Situation’ geht es ausschließlich um die Umstände und Beziehungen
in Zeit und Raum, die durch das Sprechen selbst entstehen, durch die Tatsache, daß jemand mit jemandem an einer bestimmten Stelle im Raum und zu einem gewissen Zeitpunkt über etwas spricht.» Es geht hier also um die Sprecher-Origo im Bühlerschen Sinne, um das ego-hic-nunc des Sprechers und die daraus sich ergebenden Konstellationen.

b) Region. Der Sammelbegriff Region bezieht sich auf diejenigen
Räume, innerhalb deren ein sprachliches Zeichen in bestimmten Bedeutungssystemen funktioniert. Hier unterscheidet Coseriu zwischen den Unterbegriffen Zone, Bereich und Umgebung. Als Zone wird der Raum bezeichnet, in dem ein Zeichen bekannt ist; es geht hier also um die sprachlichen Grenzen. Der Bereich ist der kulturelle Raum, in dem die bezeichneten Gegenstände bekannt sind. Die Umgebung schließlich ist «eine sozial oder kulturell bestimmte ‘Region’ wie z.B. die Familie, die Schule, die Berufsgemeinschaft oder die Kaste» (ibd., 121).

c) Kontext. Coseriu unterscheidet drei Arten von Kontext, den
einzelsprachlichen Kontext, den Redekontext und den Außer-Rede-Kontext. Der einzelsprachliche Kontext besteht aus den Zeichen der Einzelsprache(n), in welcher der Text verfasst ist. Der Redekontext entspricht weitgehend dem, was man auch als Kotext zu bezeichnen pflegt, wobei noch weiter unterschieden wird zwischen mittelbarem und unmittelbarem Kontext, also zwischen (eigentlich kontinuierlichen) Entfernungsgraden von Textteilen. Außerdem wird unterschieden zwischen positivem und negativem Redekontext, wobei letzterer sich auf nicht-gesagte Elemente bezieht, die aufgrund ihrer Erwartbarkeit (etwa aus Gründen einer bestimmten üblichen Tradition) als «fehlend» empfunden werden können. Beim Außer-Rede-Kontext unterscheidet Coseriu zwischen dem physischen Kontext, der sich auf diejenigen Dinge bezieht, «denen das Zeichen anhaftet»; dem empirischen Kontext, d.h. den Gegenständen und Sachverhalten, «die den Kommunikationspartnern zum Zeitpunkt und am Ort des Sprechens bekannt sind»; dem natürlichen Kontext, der sich auf die Kenntnis der natürlichen Welt bezieht; dem praktischen oder okkassionellen Kontext, der sich, grob gesagt, auf das bezieht, was man als die «pragmatischen Eigenschaften» des jeweiligen Textes bezeichnen könnte, nämlich diejenigen Elemente, die sich aus der kommunikativen Handlungssituation und dem Verhältnis von Textproduzent und Textrezipient und der speziellen «Gelegenheit» des Sprechens ergeben. Als weiterer Außer-Rede-Kontext ist der historische Kontext zu nennen, bei dem zwischen partikulärem auf die Geschichte einer kleineren Gemeinschaft bezogenen – und universellem auf eine Nation, eine größere Kulturgemeinschaft oder die ganze Menschheit als Kulturgemeinschaft bezogenen – Wissen von Sprecher und Hörer unterschieden wird (auch hier handelt es sich also eigentlich wiederum um ein Kontinuum). Ebenso wird hier zwischen aktuellem und inaktuellem historischem Kontext unterschieden, denn ähnlich wie bei der Situation, wo zwischen unmittelbarer und mittelbarer Situation unterschieden werden muss (letztere ermöglicht Bühlers Deixis am Phantasma), kann auch der historische Bezug auf eine inaktuelle Ebene verschoben sein. Schließlich wird noch der kulturelle Kontext genannt, der sich auf in einer Gemeinschaft bekannte kulturelle Tradition bezieht.

d) Redeuniversum. Das Redeuniversum ist das «System von Bedeutungen, zu dem ein Text gehört und durch das er seine Gültigkeit und seinen besonderen Sinn erhält» (Coseriu 1994, 128).

Die Unterscheidungen sind sehr differenziert, damit sie auf alle Texte anwendbar sein können. Bei schriftlichen Texten reduzieren sich die Umfelder: verschiedene Umfelder fallen zusammen oder sind in ihren Möglichkeiten eingeschränkt, so ist etwa die Situation durch den Text fixiert, während sie im Gespräch mehrerer Personen dynamisch ist. Dafür können aber schriftliche Texte unmittelbare Situationen mit sprachlichen Mitteln kreieren. Auch andere Umfelder, die in einem mündlichen Gespräch vorhanden sind, müssen in schriftlichen Texten versprachlicht werden. Gleichzeitig werden bei Einbeziehung der Performanz schriftlicher Texte die Umfelder wieder erweitert: zwischen geschriebenem Text und vorlesender Person kann etwa die Situation verdoppelt werden. Im folgenden Schema werden die verschiedenen Umfeldertypen nochmals im Überblick dargestellt.

“Determinación y entorno. Dos problemas
de una lingüística del hablar”, Romanistisches Jahrbuch VII, (1955-56) 29–54. Deutsche Übersetzung in: «Determinierung und Umfeld», in: Eugenio Coseriu, Sprachtheorie und allgemeine Sprachwissenschaft. 5 Studien, München: Fink 1975, S. 253-290, übers. von Uwe Petersen.